Die Arbeit von Stefan Thiel (geb. 1965) hält in mehrfacher Hinsicht Überraschungen bereit. Anfangs machen die genaue Bestimmung des Bildmotivs und die räumliche Orientierung Schwierigkeiten. Hat man die Weidenzweige in ihrer Verdopplung durch die Wasserspiegelung erkannt, verblüfft in noch größerem Maße die vom Künstler gewählte Technik des Scherenschnittes.
Sofort wird der ungeheure Arbeitsaufwand nachvollziehbar, der nötig ist, um eine so kleinteilige und zartgliedrige Komposition herzustellen. Ein derart mühsames und langwieriges handwerkliches Verfahren steht in einem geradezu bizarren Verhältnis zu den sich immer schneller entwickelnden Bildproduktionstechniken unserer Zeit. Die Vorstellung, dass ein Künstler mit schier unmenschlicher Ausdauer feinste Papiergewebe ausschneidet, während sich das gleiche Bild mit Hilfe von Fotoapparat und Computer in kürzester Zeit visualisieren ließe, scheint anachronistisch.
Der Zeitfaktor, den Thiel als Tauschwert einsetzt, um zu seinen künstlerischen Ergebnissen zu gelangen, spielte aber auch schon in seinen früheren Arbeiten eine große Rolle. So beschäftigte sich der Meisterschüler von Dieter Appelt vier Jahre lang mit der Übersetzung von Marquis de Sades »120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung« in Blindenschrift. Von diesem haptischen Medium herkommend, erschloss sich Thiel in einem zweiten Schritt die visuelle Welt und begann mit der Produktion von Scherenschnitten. Einer Technik, die, entwickelt aus dem ostasiatischen Schattenspiel, vor allem im Europa des 18. Jahrhunderts gepflegt wurde und mit dem Aufkommen der Fotografie allmählich an Bedeutung verlor. Ihre hauptsächliche Verbreitung fand der Scherenschnitt, der auch von Dilettanten erlernt werden konnte, als Bildnissilhouette und in der Volkskunst. Voraussetzung für den Herstellungsprozess ist eine weitgehende Reduktion auf die prägnanten Umrisslinien der abzubildenden Gegenstände.
Stefan Thiel bedient sich der Fotografie als Bildvorlage. Die technische Präzision und der ornamentale Charakter seiner Motive, hier die über dem Wasser schwebenden Weidenzweige, erzeugen den Eindruck einer geradezu eleganten, von der asiatischen Kalligraphie beeinflussten Ästhetik. Das visuelle Spiel zwischen Bildfläche und Tiefenraum verfremdet die gegenständliche Darstellung zu einem zeichenhaften Vexierbild, zu einem kaleidoskopartigen Ausschnitt im doppelten Wortsinn.