Die Fotografie von Anna Gaskell (geb. 1969) führt den Betrachter in Kindheitserinnerungen zurück.
Wie in einem »Blinde-Kuh-Spiel« tastet sich ein Mädchen mit verbundenen Augen vorsichtig durch einen dichten Wald, der durch sommerliches Sonnenlicht in einem hellen, leuchtenden Grün erscheint. Die Unsicherheit, die sich sofort einstellt, wenn man einem Sehenden die Augen verbindet, teilt sich dem Betrachter fast körperlich mit. Nicht nur die suchend nach vorne gerichteten Hände, auch der leicht geöffnete Mund, vermitteln die konzentrierte Anspannung aller verbliebenen Sinne, um den richtigen Weg zu finden. Die Gefahr, sich durch Äste, Dornen und Brennesseln zu verletzen oder auf dem unebenen Waldboden über Baumwurzeln zu fallen, verleiht der Situation ein großes Maß an Ungewissheit und Bedrohlichkeit. Der Wald, im Märchen das geheimnisvolle Reich von Hexen, Wölfen oder Geistern, erzeugt ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Wer sich im Wald verirrt, weil er sich nicht an die Worte der Mutter gehalten hat wie Rotkäppchen, oder weil er gar von den eigenen Eltern verstoßen wurde wie Hänsel und Gretel, gerät in eine ungeschützte Zone der Versuchung und der Bedrohung. Anna Gaskell verarbeitet in ihren fotografischen Serien häufig literarische Anregungen, zumeist Märchen oder Volkssagen. Sie schafft in freier Interpretation eindringliche Bilder für die Gefährdungen kindlicher Unschuld, für die Erfahrungen des Alleinseins und der Schutzlosigkeit in der Welt. Die heitere, sonnendurchleuchtete Natur wird zum unkalkulierbaren Raum, zum Schauplatz des Unvorhersehbaren. Mit dem im Englischen gebräuchlichen Kunstwort »happenstance«, das sich aus »happen« und »circumstance« zusammensetzt und das zufällige Nebeneinander verschiedener Ereignisse umschreibt, scheint dies auch im Bildtitel angesprochen. Damit erschließt sich jedoch auch eine weitere metaphorische Bedeutung: Der Lebensweg eines Menschen, nicht nur die Schritte in seiner Kindheit, bleibt im Dunklen, vollzieht sich vorsichtig tastend, verlangt nach immer neuer (Um-)Orientierung. Phantasie und Spannung – die Charakteristika des Märchens als literarische Form finden in der Bildsprache von Anna Gaskell ihre Umsetzung mithilfe einer äußerst exakten Inszenierung. Die Positionierung des Kindes im Profil am linken Bildrand provoziert eine virtuelle Fortsetzung seiner tastenden Vorwärtsbewegung durch den Betrachter. Eine enorme Bildschärfe und die schon fast bedrückende Nahansichtigkeit lassen die Szene in den Umraum ausstrahlen und geben ihr einen geradezu unwirklich hohen Wirklichkeitsgehalt, dem man sich kaum entziehen kann.