Die fundamentalen kosmologischen Fragen der Menschheit zur Schöpfung, zum Bau der Welt und zum Sinn des Lebens werden seit jeher philosophisch, theologisch oder naturwissenschaftlich zu beantworten versucht. Hierfür wurden stets die Gestirne als Anschauungs- und Lehrobjekte herangezogen. Die Künste begleiten diese Auseinandersetzung bildnerisch und diskutieren die jeweiligen Ergebnisse – und dies bereits seit der Antike. Auch Anselm Kiefer (geb. 1945) schließt sich einem solchen Diskurs an.
In »Adler« komponiert Kiefer auf dünnen Bleiplatten – ein Material, das der Künstler seit Anfang der 1990er Jahre verstärkt nutzt – mit schwarzer, verdünnter Acrylfarbe und Emulsion einen Sternenhimmel. Die glatte, wasserundurchlässige Fläche des Bleis verhindert eine Bindung der Farbe mit dem Bildträger, so dass diese auf der Oberfläche abperlt und sich in kleinen Farbverdichtungen sammelt, um an anderer Stelle den Bildträger freizulegen. Hiermit schafft Kiefer einen Ausblick in die Tiefe des Weltalls. Zusätzlich wird der Bildträger mit weißen Punkten aus Ölfarbe versehen, die gleichsam die Sterne substituieren, womit die Evokation eines Sternenhimmels vervollständigt wird. Er schwärzt die Fläche in der Bildmitte besonders stark und blendet an dieser Stelle einen eingegipsten weißen Zweig vor, welcher sich hier deutlicher vom Bildträger abhebt. Dieser Zweig ist wiederum auf einer Darstellung eines Sternenbildes befestigt. Mit dem Titel der Arbeit verweist Kiefer den Betrachter auf das Sternbild Adler, das sich im nördlichen Sternenhimmel befindet und aus den drei von ihm eingezeichneten Verbindungslinien erwächst, die vom hellsten Stern Altair ausgehen. Das Gemälde rekurriert auf die Naturphilosophie des englischen Mystikers und Alchemisten Robert Fludd (1574–1637). Dieser – heutzutage fast unbekannt – war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einer der bekanntesten Naturphilosophen in England. Von ihm stammt der Satz, dass jeder Pflanze, jedem Rhizom auf Erden ein Stern am Firmament entspricht. Mehr noch: Dieser Theorie nach ist der Mensch als Mikrokosmos die kleine Kopie des Makrokosmos, was sich auf den Schöpfungsgedanken, die Korrelation von Planeten und Metallen sowie Geist und Materie ausweitet. Damit brachte er eine Analogie von Mikro- und Makrokosmos zum Ausdruck, die im Gegensatz zum heutigen wissenschaftlichen Weltbild steht. Trotzdem offenbart Kiefer in seiner Arbeit mit den numerischen Ziffernbändern die heutigen wissenschaftlichen Bezeichnungen der Sterne. Denn jeder Stern weist neben einem mythologischen, historisch erwachsenen Namen eine wissenschaftlich-deskriptive Bezeichnung auf, die Informationen zur Helligkeit, Temperatur, Lage und Zugehörigkeit zu einem Sternbild subsumiert. In diesem Sinne äußert er sich bereits 1990: »was mir an wissenschaftlichen Erkenntnissen zugänglich ist, geht auch ein in meine Arbeit«.