Die Filme von Ori Gersht, geboren 1967 in Tel Aviv, sind von einem außergewöhnlichen Spannungsverhältnis zwischen (Natur-)Gewalten und Zerstörung einerseits und (Natur-) Schönheit und Erhabenheit andererseits geprägt. Gerade seine Landschaften und Stillleben verführen den Betrachter zunächst durch ihre außergewöhnliche Ästhetik. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich: Hinter diesem schönen Schein verbergen sich Metaphern für die widersprüchliche Natur des Menschen und für die unlösbaren Zusammenhänge von Vergangenheit und Gegenwart, von Leben und Tod. Gersht sucht Landschaften auf, die Schauplätze historischer Ereignisse waren, und macht sichtbar, was nicht mehr zu sehen ist.
In seinem Film „The Forest“ von 2005 zeigt er ein Waldstück, nicht weit entfernt von Kosov. Es ist ein ganz unverstellter Blick in das Dickicht hinein, keine Überbelichtung, keine Verwischungen stören die Sicht auf ein vertrautes und zunächst romantisches Naturmotiv, wie wir es etwa von Werken Caspar David Friedrichs kennen. Äste wiegen sich leicht im Wind, Licht bricht sanft durch das Geäst und Vogelstimmen sind vereinzelt zu vernehmen. Das geht 45 Sekunden so. Es ist ein stiller und friedlicher Ort, in den Gersht mitten hineingefilmt hat. Keine Baumkronen und kein Waldboden sind zu sehen, nur das von Stämmen rhythmisierte Unterholz, „als wäre kein Krieg, als wäre der Krieg nie gewesen“, wie Primo Levi eine Waldstimmung in seinem Roman „Wann, wenn nicht jetzt“ beschreibt. Und tatsächlich denken wir bei diesem Motiv nicht nur an die romantische Idylle, sondern auch an den unheimlichen Wald in den Märchen der Brüder Grimm oder vor allem auch an Elias Canetti und seine Schrift „Masse und Macht“. Das Massensymbol der Deutschen ist für Canetti das Heer. „Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald.“ Und weder in Levis Erzählung noch im zeithistorischen Kontext ist dieser Wald nur ein zeitloses Idyll. Er war vielmehr Zufluchtsort für die vielen Bewohner aus den umliegenden Dörfern, die vor den deutschen Soldaten in den Wald geflohen sind – ein Schutzort, aber zugleich ein gefährliches Territorium. Das Verharren dort war geprägt von ständiger Angst vor Entdeckung und Liquidierung. Mit dem Schwenk entlang der vertikalen Baumstämme nimmt Gersht uns mit hinein in diesen „besetzten“ Wald und es beginnt ein nervenaufreibendes 13-minütiges Schauspiel: In einer zermürbenden unrhythmischen Komposition, in einer willkürlichen Abfolge, überraschend leise oder auch erschreckend laut fallen nach und nach, schnell hintereinander oder nach längeren Ruhephasen die Bäume. Kaum sind sie aus dem Bild herausgefallen, sind sie schon Geschichte: eben noch fest verwurzelt, jetzt schon vergessen. Der bei der Betrachtung von Bäumen reflexhafte Gedanke „Was hat dieser stumme Zeuge alles schon erlebt?“ kommt auch hier auf. Mit seinem Film über die „Liquidierung“ dieser „Zeit-Zeugen“ projiziert Gersht die Schrecken der Vergangenheit ganz unmittelbar in unsere Gegenwart.