Während seines gesamten bisherigen Schaffens wandert der Schweizer Künstler Franz Gertsch (geb. 1930) zwischen zwei Polen, die für ihn zwei Zitate großer Künstler markieren: »Wahrhafftig steckt die Kunst inn der natur, wer sie heraus kann reyssen, der hat sie« (Albrecht Dürer) und »Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern sie macht sichtbar« (Paul Klee). War für Dürer die Natur die höchste Instanz, die alles Existierende, somit auch die Kunst, in sich trägt, so verstand Paul Klee die Kunst als Grundlage zum Verständnis der Natur bzw. der Wirklichkeit.
Zunächst scheint Gertsch mit dem in Rot auf Japanpapier gedruckten großformatigen Holzschnitt »Gräser« von 1999/2000 in seinem sich extrem der Wirklichkeit annähernden Hyperrealismus ganz der Auffassung Dürers verpflichtet. Technisch bildet ein überdimensional vergrößertes Dia, ein Ausschnitt aus einem Gräserfeld, das der Künstler auf eine dunkel eingefärbte Druckplatte projiziert, die Grundlage für den Holzschnitt. Somit ist die Vorstufe der Graphik eine Verbindung aus Hochdruck und Fotografie. Franz Gertsch überträgt jeden Lichtpunkt des Diapositivs durch einen Aushub mit dem Stichel auf den Holzstock. Dieses Verfahren fordert einen langwierigen Prozess höchster Präzision, ja vielleicht einen fast kontemplativen Umgang mit Stichel und Holz und evoziert eine für einen Holzschnitt maximale Schärfe des Abbilds. In der Nahsicht aber löst sich diese erstaunliche Illusion der Wirklichkeit in einem endlosen Meer kleinster Punkte auf und verschmilzt zu einer uferlosen abstrakten Komposition. Der Ausschnitt täuscht einerseits eine große Naturnähe vor – andererseits aber scheint gerade die Monumentalität eine unüberwindbare Distanz zwischen Betrachter und Natur vorzugeben. Neben dem Motiv, in seiner Größe fast makrokosmisch, erzeugt die mikroskopische Nahsicht der zahllosen weißen Lichtpunkte eine eigentümlich zarte, sanfte, zugleich vibrierende und dennoch kontemplative, meditative Stimmung. Flüchtigkeit im Sinne des festgehaltenen Moments und Kontinuum des Ausschnitts als Teil eines Gesamten sind dabei zwei entscheidende Charakteristika der Naturdarstellung. Die »Gräser« sind Teil eines komplexen, sich zwischen 1996 und 2001 stets wandelnden Zyklus dieses Motivs in der Technik der Malerei und des Holzschnitts. Im Holzschnitt entstanden dabei jeweils Serien desselben Druckstocks in verschiedenen Farben – Schwarz, Grün, Blau und Rot. Wegen des höchst komplizierten Druckverfahrens existiert in jeder Farbe nur ein Abzug.
Bei seinem grün auf Bütten gedruckten Holzschnitt »Bagatelle (Waldweg)« aus dem Jahr 2003 wählt Franz Gertsch den Einblick in die unergründliche Tiefe eines Waldes als Motiv. Zentralperspektivisch komponiert fluchtet der baumbestandene Weg in die Ferne der Waldlandschaft. Friedvolle Stille, zugleich aber auch ein eher geheimnisvolles Schweigen bestimmen die Atmosphäre dieses an Landschaften der Romantik erinnernden Blattes. Diese im Bildraum erzeugte Stille fordert den Betrachter zur Versenkung, zur Meditation heraus. Trotz aller Wirklichkeitsnähe bleibt die Sicht auf die Landschaft unaufgeregt, nichts bewegt sich, keine Kreatur ist zu erblicken, nichts lenkt ab. Die Technik der weißen Punkte zwischen dem grünen Grund taucht die Landschaftsszene trotz des hohen Realismus der Darstellung in ein flirrendes, entmaterialisierendes Licht. Diese Ambivalenz zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit schwingt stets unterschwellig mit, bestimmt die Atmosphäre und lässt die Betrachtung des Bildes zu einer Erfahrung werden – die Erfahrung dieser unbewegten Stille und zugleich auch einer unumstößlichen Harmonie. In seinem unwillkürlichen Bedürfnis des Sich-hinein-Versenkens in die Landschaft fragt der Betrachter nicht mehr nach der Darstellung im Sinne des Abbildes der Natur. Sondern lässt ihn selbst scheinbar Teil der Natur werden.