Der Teichrohrsänger ist ein kleiner rötlichbrauner Vogel, der, wie sein Name schon sagt, in den Schilf-Biotopen von Gewässern zuhause ist. Baselitz (geb. 1938) malt ihn in seiner natürlichen Umgebung, mitten zwischen dem steif aufragenden Röhricht, das als grün-blau-braune Senkrechte die Komposition in der Längsachse durchschneidet.
Die Physiognomie des Teichrohrsängers, sein tarnfarbenes Federkleid und seine enge Bindung an die vertikalen Strukturelemente des Röhrichts, in dessen Halmen er sich hüpfend und kletternd bewegt, sind im Gemälde exakt erfasst. Auch ohne ornithologische Vorkenntnisse macht spätestens der Bildtitel deutlich, dass hier nicht irgendein beliebiger Vogel gemeint ist, sondern ein ganz bestimmtes Tier, dessen Existenz durch menschliche Eingriffe in die Natur, insbesondere durch Entwässerungsmaßnahmen und Uferbebauungen zunehmend gefährdet ist. Dennoch: Baselitz illustriert keine Naturfibel und sein Gemälde ist auch keine Stellungnahme aus ökologischer Sicht. Im Gegenteil: Die bei Baselitz übliche Umkehrung des Motivs verhindert eine schnelle Orientierung im Bild. Der erste Blick lässt vielleicht gar an ein abstraktes Gemälde denken, so sehr dominieren die starken Farbkontraste und die formalen Gestaltungselemente die Leinwand. Die Malerei selbst und nicht das Bildmotiv stehen im Mittelpunkt. Der motorisch bewegte Farbauftrag, die Intensität der Farben und die expressive Strichführung, der leuchtend rote Hintergrund, die dominanten Diagonalen – all dies sind die entscheidenden Eindrücke vor dem Gemälde. In der Tradition des deutschen Expressionismus beheimatet, wurde Georg Baselitz zusammen mit Sigmar Polke, Jörg Immendorff, Markus Lüpertz und Gerhard Richter zu einem der wichtigen Neubegründer einer gegenständlichen Malerei in Deutschland. Nachhaltig an die Naturwirklichkeit gebunden, entwickelte er über einen langen produktiven Schaffenszeitraum von nunmehr über vierzig Jahren eine nach Selbständigkeit strebende Bildwirklichkeit. Das Prinzip der Umkehrung aller Motive verhalf dabei zu einer Konzentration auf den Malakt als solchen, befreite den Künstler von der reproduktiven Tendenz seiner figurativen Malerei. Allerdings entwickelte Baselitz dennoch Werkgruppen, Motivreihen, eine Ikonographie. Landschaft, Natur, der Mensch – das wurden und sind seine wichtigsten Themen. Formale und inhaltliche Aspekte seiner Malerei stehen dabei nur scheinbar in einem Paragone: Immer geht es Baselitz vor allem um ein gültiges, überzeugendes, tragfähiges Bild.
Die auf dem Kopf stehenden Bäume unterscheiden sich vor allem durch die Technik der Zeichnung – mal mit raschem, dünnem Strich, mal mit weicheren, geschwungenen Linien deutet er mit jeder Arbeit auf die hochgradige Individualität des Baumes hin und verleiht jedem einzelnen Baum eine andere „Persönlichkeit“. Zum Teil zeigt Baselitz die Bäume als Solitäre und schafft mit wenigen, schnell gesetzten Linien lediglich die Konturen. Oder er setzt den Baum in einen Umgebungskontext und deutet mit Binnenstrukturen auch auf Licht- und Schattenverhältnisse hin. Die Äste der umgedrehten Bäume graben sich wie Wurzeln nach unten in den vermeintlichen Himmel hinein – eine Form der Darstellung, die die Symmetrie des Baumes der verdeckten, unter der Erde liegenden Wurzeln sichtbar macht. Wenngleich die Bäume durch die Umkehrung, aber auch durch die reduzierte Art der Zeichnung einen hohen Abstraktionsgrad erreichen, so sind sie dennoch für den Betrachter sogleich als Bäume erkenntlich. Form und Gestalt des Baumes sind tief im menschlichen Gedächtnis verankert und dem Menschen aufs Höchste vertraut. Mit dieser Herangehensweise sowie mit dem Prinzip Umkehrung betont der Künstler seine Ansicht über die Selbstständigkeit der Kunst und ihre Befreiung vom Motiv. Technik und Bildorganisation stehen genauso im Mittelpunkt wie das Motiv selbst und funktionieren unabhängig von diesem. Es entsteht eine neue und eigenständige Bildrealität.
Mit dieser Folge von 16 Strichätzungen bezieht sich Georg Baselitz auf einen Text des französischen Autors Antonin Artaud. In seinem surrealen Text »Théâre de Séaphin« lässt er den eigenen Köper immer wieder zersplittern und sich in unzäligen Varianten erneut zusammensetzen. Es ist ein temporeiches Wechselspiel von Destruktion und Konstruktion. Der Köper wird zu Spielmaterial, das beliebig auseinander- und wieder zusammengesetzt werden kann.
Die schaurig-sinnliche Masse aus Fleisch und Blut, wie Artaud sie inszeniert, animierte Baselitz zu einer eigenwilligen künstlerischen Auseinandersetzung. Lunge, Füße, Ohren, Nase, Hände, männliches und weibliches Geschlecht und auch ein changierend unentschiedenes Neutrum sind für den Künstler dabei bildgebende Stichwörter aus der Vorlage Artauds. Die surreale Wirkung des Textes übersetzt Baselitz in eine eigenständige Bildsprache, die gleichermaßen absurd erscheint. Aspekte korrekter Anatomie spielen keine Rolle: Das Motiv »Hals« wirkt eher wie ein ausgepeitschter Rückenakt, die »Füße« lösen sich in venöse Strichsetzungen auf und die »Ohren« kleben kopflos und flach aneinander. Auch die beiden Flügel der »Lunge« sind zu klein, unverzweigt ragt die mächtige Luftröhre heraus, aufgebäumt wie ein Phallus über einem großen Hodensack. Aufgeladen mit dieser potenten Vitalität, irritieren diese Ansichten unser Halbwissen von Aussehen und Form der inneren Organe und vom Wesen des Menschen überhaupt. Die Dramatik des artaudschen Textes greift Baselitz durch die (blut-)rote Farbgebung, die bewegte Strichsetzung und durch den polemischen Kontrast von roten zu weißen Flächen auf. »Schnell und mit wenigen Kratzern, leicht, fast frivol, sehr bescheiden, verborgen auf kleinen weißen Blättern, gibt es dieses Linienspiel eines Entwurfes […]«, beschreibt Baselitz die Eigenheiten seiner Radierungen und zielt damit auch auf seine Folge von »Fluß und Schrift«. Den destruktiven Zersetzungsprozess des Körpers und seine konstruktive Neuerschaffung sieht Baselitz zudem im Arbeitsvorgang der Radierung widergespiegelt. Dort zerfallen nach und nach die bearbeiteten Platten durch Oxidation, »aber das empfindliche Papier halten wir immer noch in den Händen«. Neben der motivischen Übertragung wird somit auch die Wahl der Technik zu einem zeitgenössischen Kommentar des »Théâre de Séaphin«.