In ihrer Arbeit konzentrieren sich die beiden Zwillingsbrüder Doug und Mike Starn (geb. 1961) auf die fotografische Darstellung der Zyklen der Zeit, d. h. des steten Wandels. Ihre Arbeiten sehen sie als Metapher für das Leben. Dabei kommt dem Licht eine entscheidende schöpferische Rolle zu.
Ihre beiden mehrschichtigen Fotoarbeiten aus dem Zyklus »Structure of Thought«, 2001 entstanden, zeigen Bäume hinter pergamentartigem Papier, die wie Schattenrisse wirken. Das technische Verfahren hierbei ist höchst kompliziert: Die Grundlage für ihre Arbeit ist zunächst eine Fotografie, die sie in zahlreichen Schritten mithilfe eines Bildprogramms am Computer verändern. Die Fotografie eines Baumes wird zunächst vergrößert und in vielen gleichformatigen Einzelteilen mit einem Tintenstrahldrucker in zweifacher Ausführung ausgedruckt. Anschließend werden diese Ausdrucke auf einem speziellen, höchst feinen, transparent durchschimmernden Japanpapier aufgeklebt und mit Wachs und Enkaustik überzogen. Durch die Montage der Seiten in zwei übereinander schwebenden Schichten scheint die hintere unter der anderen durch. Damit erhalten die großformatigen Werke ihren transparenten Charakter. Das Licht ist bei diesem Vorgang nicht nur technisch wichtig, sondern erschließt auch eine zweite Bedeutungsebene: Licht als lebensspendende Energie, wie sie sich in der Pflanzenwelt im Prozess der Photosynthese ausdrückt. Denn durch den photosynthetischen Vorgang nehmen die Pflanzen Licht auf, mit dessen Hilfe sie anorganische in organische Stoffe umwandeln. Erst durch diesen Prozess wird ihr Leben möglich. In den Werken der Starns wird Licht im übertragenden Sinne von Leuchtkraft, Erleuchtung und Wissen verstanden, d. h. die Sonne gibt ihr allumfassendes Wissen weiter. Der vielfach verästelte Baum, lebensfähig durch das Licht, ist für die Künstler vergleichbar mit einem Buch, in dem Gedanken niedergeschrieben sind. Zugleich nehmen die Starns die Bäume mit ihren hundertfachen dichten starken oder feinen Verästelungen als Sinnbild für den Aufbau des Gehirns mit seinen Nerven und Blutbahnen sowie seinen Windungen und Synapsen, damit also das Gehirn als Ort der Gedanken, Träger des Wissens und Arsenal der Erinnerungen. Mithilfe vertrauter Gegenstände aus dem Alltag und der Umwelt erkunden die Zwillinge Mike und Doug Starn das Licht als Metapher für Wissen und Information, für Zeit und Unendlichkeit. »Licht ist Macht, Wissen, ist was wir möchten, was wir brauchen, es ist Befriedigung, Erfüllung, Wahrheit und Reinheit. Es ist Geschichte, die Zukunft und Spiritualität. [...] Licht kontrolliert jede Entscheidung und Handlung, die wir tun. Licht ist Gedanke.« Metaphorisch gesehen bewirken und bestimmen die Sonnenstrahlen die Motivationen der Menschen, schreiben sie das gesamte komplexe Wissen in jedes sichtbare Sein. Die Fotografie als Technik wird von den Brüdern bevorzugt genutzt: Sie betrachten dieses Medium als die unmittelbarste Möglichkeit, das Licht auch im technischen Entstehungsprozess mitwirken zu lassen.
Die zwölf Fotografien »Eiskristalle« entstammen der Serie »alleverythingthatisyou«. Jedes einzelne Eiskristall wurde von den Künstlern isoliert aufgenommen, tausendfach mit einem Mikroskop vergrößert und schließlich fotografiert. Der schlichte, dunkle quadratische Hintergrund betont die individuelle Verästelung und das nahezu Durchsichtige der fragilen Schneeflocke. Allein der Kontrast von hell und dunkel lässt sie schimmernd sichtbar werden und offenbart, dass das Licht auch in ephemeren und transparenten Elementen essentiell wirkt. Gerade die Flüchtigkeit der Schneeflocke verleiht der künstlerischen Intention der Brüder Starn besonderes Gewicht. Die Künstler betrachten die Verästelung der Eiskristalle, die der der Bäume in ihrer Serie »Structure of Thought« vergleichbar ist, als adäquaten Ausdrucksträger für die Komplexität des Wissens, das das Licht transportiert. Der serielle Aufbau und der gleichartige Fond heben die Einzigartigkeit eines jeden Eiskristalls besonders hervor. Dennoch demonstrieren die Reihung und die Reduzierung auf Schwarz und Weiß, dass das Individuelle auch Bestandteil eines großen Ganzen ist.
Die digital bearbeitete Fotografie »Black Pulse 17« zeigt ein verwelkendes, durchleuchtetes Blatt am Ende seines natürlichen Auflösungsprozesses und ist Teil einer Bildserie, die aus herbstlich vergehenden Blättern besteht. Ein Hauptmerkmal im Werk der beiden Künstler, welches auch »Black Pulse 17« prägt, ist die Dualität von Natur und Technologie. Einem natürlich verwelkenden Blatt steht die digitale Bildbearbeitung gegenüber. Die Künstlerbrüder wählen glänzend weißes Fotopapier, das klinische Reinheit suggeriert, weil es über eine hohe Strahlkraft verfügt, die das Licht des Blatts aufnimmt. Für sie sind Blätter feste Materie aus Licht, die über die Fotosynthese für den Menschen lebenserhaltend wirken. Trotz des fragilen, skeletthaften Zustands des Blatts vor weißem Hintergrund, entfaltet das Bild – nicht zuletzt aufgrund des großen Formats – eine bemerkenswerte Präsenz. Die wenigen Farbreste treten gegenüber den grau-schwarzen Partien, die den Verfall kennzeichnen, in den Hintergrund und dennoch vermittelt der zarte Schatten, den das Blatt auf den sterilen Fond wirft, eine über die akute Auflösung dauernde Hoffnung, dass Spuren hinterlassen werden. Doug und Mike Starn zeigen, wie die Darstellung der Vergänglichkeit in der Natur einerseits und der Wunsch mithilfe technischer und künstlerischer Mittel an Dingen festzuhalten andererseits eine Symbiose bilden können.