Wir sollten die Erde wie eine Stiftung behandeln

22.05.2020

Reinhold Leinfelder im Gespräch mit Stephanie Schwaderer

Anlässlich der Anthropozän-Thementage der Stiftung Kunst und Natur in Nantesbuch im März 2020 sprach der Paläontologe und Geologe Prof. Dr. Reinhold Leinfelder, Mitglied der Anthropocene Working Group mit der Journalistin Stephanie Schwaderer.


Stephanie Schwaderer: Herr Professor Leinfelder, angenommen der Mensch würde heute von der Erde verschwinden. Was wäre in 5000 Jahren noch von ihm zu sehen?

Reinhold Leinfelder: Sehr vieles. Der Mensch hat der Erde 30 Billionen Tonnen Material entnommen und dieses neu verarbeitet - zu Häusern, zu Maschinen. Auf jeden Quadratmeter Erdoberfläche kommen heute im Schnitt 50 Kilogramm Technofossilien, also Materialien, die dem Naturkreislauf entzogen wurden und zu neuen Produkten zusammengefügt wurden, darunter ein Kilo Beton. In 5000 Jahren würde man gewiss noch Plastik in den neuen Sedimenten finden und elementares Aluminium, radioaktiven Fallout und viele chemische Substanzen, die lange haltbar sind, Industrieasche – die Liste ließe fortsetzen. Überhaupt wühlen wir gerne in der Erde herum. Mit Sicherheit würde man noch auf Relikte von Tunnelbauten stoßen. Und in den Eiskernen, sofern es noch Eis geben sollte, ließen sich über chemische Isotope der Klimawandel und eine veränderte Nährstoffsituation nachweisen.

Sie sagen, das Anthropozän habe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen. Woran machen Sie das fest?

Der Mensch hat die Natur verändert, seit er sich niedergelassen hat. Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft gab es immer wieder gewaltige Eingriffe, aber sie waren regional beschränkt und haben sich über Tausende von Jahren hingestreckt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine große Beschleunigung der Wirtschaftsprozesse ein. Schlagartig gab es neue Geosignale und Technofossilien, die zeitgleich in den Sedimenten auftauchten. Sie sind für uns die Definitionsmerkmale des Anthropozäns.

Was genau hat sich bei den Sedimenten verändert?

Plötzlich war Plastik da und Aluminium, zudem „Gewürzmetalle“, wie wir sie nennen: Metalle, seltene Erden, die es eigentlich nur an wenigen Punkten der Erde gibt, die aber nun wie mit dem Pfefferstreuer verteilt überall auftauchten, weil wir sie nicht sachgemäß entsorgen oder recyceln.

Warum ist es sinnvoll, den Begriff Anthropozän einzuführen?

Wenn wir in der Geologie feststellen, dass das Erdsystem und die Sedimente anders sind, als sie früher waren, sollte man dies neu benennen. Es sind ja nicht nur neue Materialien dazugekommen, auch die Prozesse laufen anders ab. Viel Sediment gelangt zum Beispiel gar nicht mehr in die Flussdeltas, weil wir Zehntausende Stauseen gebaut haben. Wir greifen in den Wasserhaushalt ein, in den Phosphorkreislauf, in das Klimageschehen. Das alles entspricht nicht mehr den Bedingungen des Holozäns, deshalb ist es sinnvoll, eine Grenze zu ziehen. Auch andere Wissenschaften profitieren davon. Sedimente sind Archive, die auch Historikern und Archäologen offenstehen. Wir bekommen eine gemeinsame Datenbasis und können unsere Arbeit besser korrelieren.

Reinhold Leinfelder (rechts) in der Eröffnungsrunde der Anthropozän-Thementage im Gespräch mit Christoph Görke, Gabriele Dürbeck, Nina Möllers und Christian Schwägerl

Welche Bedeutung hat der Begriff Anthropozän für die Gesellschaftswissenschaften?

Er verdeutlicht, dass wir alle Teil eines Systems sind. Eine Einsicht, die uns erkennen lässt: So kann es nicht weitergehen. Ich verwende gerne das Bild der Stiftung. Wir sollten die Erde wie eine Stiftung betrachten. Von einer gut geführten Stiftung kann man gut leben, sie wirft dauerhaft Erträge ab, aber wehe man geht ans Eingemachte! Und das machen wir gerade. Ich hoffe, dass das Anthropozän auf der Verantwortungsebene ein Umdenken bewirkt.

Weil es ein alarmierender Begriff ist?

Manche sehen ihn als Beschreibung alles Bösen, was der Mensch der Erde angetan hat. Aber da darf man nicht stehenbleiben. Das wäre ein bisschen so, als würde mein Arzt zu mir sagen: Sie sind extrem krank, gehen Sie nach Hause, auf Nimmerwiedersehen. Aus der Analyse müssen Konsequenzen hervorgehen – in der Wissenschaft, in der Politik, in der Bildung. Wir müssen weg vom westlich-dualistischen Denken: Natur hier, Mensch und Kultur da. Das hat sich faktisch überlebt und verhindert viele Lösungsansätze. Wir brauchen mehr als engstirnige Regelungen oder planetare Grenzen wie das Zwei-Grad-Ziel. Wir müssen ganzheitlicher denken, größer, weiter.

Könnte man nicht sagen: Der Mensch braucht die Natur, aber die Natur braucht den Menschen nicht?

Natürlich brauchen wir die Natur, von ihr leben wir, etwas anderes haben wir nicht. Umgekehrt funktioniert aber auch die Natur, wie wir sie kennen, nicht mehr ohne uns. Dreiviertel der festen, eisfreien Erde haben wir so umgekrempelt, dass wir nicht mehr von Urnatur sprechen können. Das ist Neonatur oder Kulturlandschaft. Um sie in ihrer Vielfalt zu erhalten, braucht es Schutzmaßnahmen und Umweltmanagement.

Der Mensch ist nicht besonders stark und nicht besonders schnell, er kann nicht gut riechen oder sehen, muss viele Stunden schlafen. Wie hat solch ein mittelmäßiges Geschöpf es geschafft, sich zum Herrscher der Erde aufzuschwingen?

Wir sind soziale Wesen, fähig zur Arbeitsteilung, und wir können Geschichten erzählen. Damit können wir Wissen weitergeben, ohne dass dieses in den Genen verankert werden muss. Man könnte sagen: Die kulturelle Evolution ist der verlängerte Arm der biologischen Evolution. Sonst hätten wir es nie geschafft, über den Winter zu kommen. Aber die kulturelle Evolution muss noch mehr leisten. Wir müssen uns noch ein Stück weiter von unserem biologischen Erbe emanzipieren, das tief in uns sagt: Das ist meines, und das esse ich gleich auf.

Wie ließe sich Nachhaltigkeit in unserem politischen und gesellschaftlichen System verankern?

Der Vierjahreszyklus in der Politik kommt langfristigen Strategien nicht entgegen. Deshalb brauchen wir mehr Monitoring-Systeme, damit wir wissen: Wo ist etwas besser, wo etwas schlechter geworden? Das funktioniert über die Wissenschaft, aber auch viel über Partizipation. Ich würde mir wünschen, dass vor den Abendnachrichten nicht nur der Börsenbericht gesendet würde, sondern ein Anthropozänbericht. Auch um zu zeigen: Wo passiert etwas? Wo setzen sich Menschen ein? Wo ist man weitergekommen? Das hätte gewiss auch politische Konsequenzen.

Edward Burtynsky hat sich bei der Konzeption seines Films „Anthropocene“ an den Ergebnissen Ihrer Arbeitsgruppe orientiert. Was lösen die Bilder in Ihnen aus?

Sie wirken noch einmal ganz anders als Zahlen oder Grafen. Der Film nimmt eine beobachtende Perspektive ein, dokumentiert auf künstlerische Art, was sich gerade im Großen und Kleinen abspielt auf der Welt. Er zeigt, wie wir in die Geologie eingreifen, aber auch in die belebte Welt. Das nimmt einen schon mit. Im ersten Moment lässt er einen etwas ratlos zurück. Aber er wirkt nach und gibt den Anstoß dazu, sich mit dem Befund auseinanderzusetzen.

Der Bogen spannt sich von Raubbau über Flächenfraß bis hin zum Artensterben. Welches Themenfeld ist in Ihren Augen das dringlichste?

Die größte Herausforderung ist der Klimawandel. Abgesehen davon sind alle Probleme gleich dringlich - das ist das Problem des Anthropozäns. Nehmen wir die Korallenriffe. Es reicht nicht, den Klimawandel zu deckeln, wir müssen an die Überfischung ran, an die Überdüngung, an die Meeresverschmutzung. Und so ist es bei vielen anderen Problemen. Wir suchen immer nach dem einen großen Knopf, den man drücken könnte, und dann wäre alles gut, aber den gibt es leider nicht. Andererseits macht das die Sache auch kreativer. Jeder kann sich in seinem Feld einbringen.

Beispiel Korallen: Denken Sie, es gibt noch eine Chance, sie zu retten?

Selbst unter den besten Annahmen würde es sehr lange dauern, bis die Korallenriffe wieder so prächtig würden, wie wir sie noch kennen. Was uns überrascht hat: Vor der Mündung des Amazonas wurden vor einigen Jahren Korallen entdeckt, die viel nährstoffreicheres Wasser vertragen als die empfindlichen Riffe auf Hochsee. Wir kannten solche Korallen bislang vor allem aus grauer Vorzeit, als sie noch im Schlamm gelebt haben; wir wussten lange nicht, dass es sie noch gibt. Wenn es uns gelänge, die Klimaerwärmung auf eineinhalb Grad zu begrenzen und die Überdüngung in den Küstengebieten zu reduzieren, könnten sie dazu beitragen, dass das Tal der Tränen, was die Korallen betrifft, etwas weniger tief und weniger breit wird. Ersetzen können sie die Hochseeriffe nicht.

Nach drei Thementagen „Anthropozän“ in Nantesbuch, was ist Ihr persönliches Fazit?

Es ist wichtig, dass Leute aus vielen Bereichen zusammenkommen. Kein Fach allein kann diese Problematik bewältigen. Auch im Hinblick auf Landschaftspflege ist Nantesbuch ein Vorbild. Der Mensch ist zu einer solch starken Kraft geworden, es müsste doch funktionieren, dass wir diese Kraft ins Positive wenden und eine große Beschleunigung bei der Gestaltung einer zukunftsfähigen Welt erreichen.

Welche Rolle spielt dabei der persönliche Verzicht?

Man kann nicht allein die Welt retten, aber es ist sinnvoll und kann sogar Spaß machen, neue Dinge auszuprobieren.

Wie sieht das in Ihrem Leben aus?

Für Dienstreisen unter 1000 Kilometer steige ich nicht mehr ins Flugzeug. Ich fahre so gut wie nie Auto, versuche wenig Fleisch zu essen und lebe in einer kleineren Wohnung. Außerdem lade ich gerne Leute zur Insektenverkostung ein.

Ihre Lebensqualität hat nicht gelitten?

Mit dem Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln bin ich schon an Plätze gekommen, die ich sonst nie gesehen hätte. Und seit ich weniger Fleisch esse, freue ich mich richtig auf den Sonntagsbraten. Das ist jetzt ein ganz anderer Genuss.

Dieses Interview ist erschienen im März 2020 in

Notizen aus dem Anthropozän
Eine Publikation der Stiftung Nantesbuch anlässlich der Anthropozän-Thementage im November 2019
Herausgegeben von der Stiftung Nantesbuch gGmbH (heute Stiftung Kunst und Natur)
Gestaltung atelier freilinger&feldmann
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