Die Natur hat ohne das Zutun von Kultur über Jahrmillionen hinweg vielfältige Lösungen für die Herausforderungen des Lebens etabliert. Die derzeit stark diskutierten Disziplinen der ‚Biomimikry‘ oder ‚Bionik‘ wollen von der Natur lernen.
Bionik und Biomimikry möchten der Natur zuhören, ihren Innovationen Raum geben und ihre Lösungsansätze übernehmen. Sie nehmen die Natur ernst, hören ihr zu, beobachten sie, lernen von ihr, sind ihre Schülerinnen. Kultur und Technik richten sich nicht die Natur nach ihren Wünschen ein, sondern lassen sich von der Natur inspirieren, lenken und leiten. Aber: wenn wir die Natur nutzen, um ihre Lösungen auf unsere technischen Systeme zu übertragen, geraten wir da nicht wieder an den Punkt, die Natur zu instrumentalisieren?
Überlegungen von Asha K. Singhal und Elizabeth Rosenberg – mit einem Vorwort von Mario Grizelj
Vorwort
Die Stiftung Kunst und Natur beschäftigt sich in vielerlei Hinsicht mit Fragen, die das Verhältnis von Natur und Kultur betreffen. Sehr vorläufig und für Diskussionen offen, ließen sich Natur und Kultur – in Anlehnung an den französischen Philosophen Régis Debray – folgendermaßen definieren:
Natur ist die Gesamtheit dessen, was nicht von uns Menschen und unseren Tätigkeiten abhängt und
Kultur wären Leistungen und Techniken des Menschen sowie die durch ihn erzeugten Artefakte, also die Gesamtheit dessen, was von uns abhängt (vgl. Régis Debray 2020: „Das grüne Zeitalter“. Lettre International 128, 7-20).
Eine Kulturgeschichte der Natur könnte folgendermaßen beginnen: Lange lebten wir Menschen in Abhängigkeit von der Natur: Wetter, Ernährung, Mobilität, Behausung u.v.a. In vielerlei Hinsicht waren wir von ihr determiniert. Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde allerdings die Idee dominant, dass wir Menschen als vernunftbegabte Wesen in der Lage sind uns von der Determination durch die Natur zu befreien. Wir können die Natur sowohl diskursiv als auch technisch kontrollieren und beherrschen. Mit unseren technisch bestimmten Kulturleistungen lösen wir uns von der Abhängigkeit von der Natur und gestalten die Welt so, wie sie uns gefällt. Wir versuchen immer stärker die Dinge, die ursprünglich nicht von uns abhängen, so zu gestalten, dass sie von uns abhängen – willkommen im Anthropozän.
Dies führte auch dazu, dass Kultur und Natur, Technik und Natur deutlich voneinander getrennt wurden. Sie standen sich gegenüber und der eine Bereich (Kultur und Technik) bediente sich hemmungslos und einseitig aus dem Repertoire des anderen Bereichs (Natur), ohne dass es zu Verbindungen oder Rückkopplungen kam. Die Natur ist zu unserer ‚Um-Welt‘ geworden, zu einem von uns Menschen als Kulturwesen getrennten Bereich, der sich gerade wegen dieser Trennung leicht instrumentalisieren und ökonomisieren lässt. Wir hier – und die von uns getrennte, uns umgebende Natur dort.
Diese Logik hat schon seit längerem an Überzeugungskraft verloren. Es wird nun sichtbar, dass sie zur Ausbeutung der Natur und ihrer Ressourcen führt. Wir erkennen und spüren in aller Dringlichkeit, dass die Natur massiv Schaden nimmt, wenn sie einer einseitig ökonomisch und technisch ausgerichteten Kultur nach- und untergeordnet ist. Die Natur besitzt so keine eigene Stimme. – Wir sind heute jedoch an den Punkt gekommen, der Natur ihre Stimme wiedergeben zu müssen. Es gilt, der Natur zuzuhören. Es gilt, die Trennung von Kultur und Natur, von Technik und Natur zu hinterfragen oder zumindest neu aufzustellen. Das ist ein einerseits faszinierendes, ein andererseits aber auch schwieriges Unterfangen, da wir erstmal erörtern müssen, was wir überhaupt unter ‚Natur‘ verstehen, was überhaupt die ‚Sprache‘ der Natur ist und in welche neuen Beziehungsformen wir mit der Natur treten können.
Eine Möglichkeit wäre, den Begriff der ‚Umwelt‘ durch den der ‚Mitwelt‘ zu ersetzen. Wir sind nicht von der Natur umgeben, sondern wir teilen uns mit ihr unseren Planeten. Wir teilen uns eine gemeinsame Welt – im Englischen würde sich der Begriff ‚Shared Environment‘ anbieten. Natur und Kultur, Natur und Technik sind miteinander in der Welt und beide gehen vielfältige ‚VerBindungen‘ ein: Natur und Kultur sind mal lose miteinander verbunden, mal auch stark aneinander gebunden. Das gilt es, im Einzelnen zu prüfen.
Eine zurzeit stark diskutierte Option firmiert als ‚Biomimikry‘ oder ‚Bionik‘. Die Idee dahinter lautet: Von der Natur lernen. Die Natur hat, ohne das Zutun von Kultur, vielfältige Lösungen etabliert. Sie hat über Jahrmillionen hinweg erfolgreiche und effiziente Mechanismen entwickelt, sich zu erhalten, weiterzuentwickeln, neuen Gegebenheiten anzupassen und sich resilient halten zu können. Die Natur ist, so die Annahme, in Rahmen eines sich selbst regulierenden Kreislaufs immer effizient und optimiert. Bionik und Biomimikry möchten der Natur zuhören, den Innovationen der Natur Raum geben und die Lösungsansätze der Natur übernehmen. Bionik und Biomimikry versuchen bei ihren technischen Problemlösungen die Natur zu kopieren bzw. ihre Lösungen auf technische Systeme zu übertragen. – Mit Bionik ist die konkrete technische Umsetzung gemeint, mit Biomimikry das ihr zugrundeliegende System, aneignend von der Natur zu lernen. – Das berühmteste Beispiel ist der Klettverschluss, der sich seinen Mechanismus von Kletten (Arctium) abgeschaut hat.
Biomimikry nimmt die Natur ernst, hört ihr zu, beobachtet sie, lernt von ihr, ist ihre Schülerin. Kultur und Technik richten sich nicht die Natur nach ihren Wünschen ein, sondern lassen sich von der Natur inspirieren, lenken und leiten. – Allerdings, so scheint mir, werden hier auch einige Gefahren sichtbar. Wenn wir die Natur nutzen, um ihre Lösungen auf unsere technischen Systeme zu übertragen, geraten wir da nicht wieder an den Punkt, die Natur zu instrumentalisieren? Liegt der Biomimikry nicht auch ein imperialistischer Zug der Ausbeutung zugrunde? Wird die Natur nicht in unsere instrumentalistischen und einer Managerlogik geschuldeten Effizienz- und Optimierungsprozesse eingespeist? Wir lernen von der Natur und hören ihr zu, aber wieder nur, um unser selbst willen, um unserer Technik willen und unserer Kultur willen, nicht um der Natur willen. Wieder ist die Natur nur für uns da, nicht wir für sie.
Bionik und Biomimikry sind viel zu differenziert und vielfältig aufgestellt, um sie pauschal kritisieren zu können. Hier gilt es genau zu unterscheiden. Asha Singhal und Elizabeth Rosenberg stellen hier einen biomimetischen Zugang vor, der den genannten Gefahren begegnet. Ihnen geht es darum, der Natur gerade durch den Einsatz eines biomimetischen Denkens zu ihrem Recht zu verhelfen. Es geht um einen achtsamen Umgang mit Natur und ein ehrliches Lernen, um ein ehrliches In-Beziehung-treten, darum, mithilfe des biomimetischen Ansatzes ein gleichberechtigtes Miteinander von Natur und Kultur, von Natur und Technik einzurichten. Singhal und Rosenberg gehen davon aus, dass wir im Modus der Biomimikry unsere gemeinsame Mitwelt in den Blick bekommen. Dabei wird die Natur nicht einfach bionisch angezapft, vielmehr sollen die Lösungen zusammen mit der Natur und unter Bewahrung der natürlichen Kreisläufe aufgestellt werden. Es heißt nicht umsonst „mit der Natur gestalten“. Und das ist ein zwar technischer, aber doch in besonderem Maße auch kreativ-künstlerischer Prozess.
Für uns als Stiftung Kunst und Natur ist es wichtig, dass wir die Chancen und Gefahren diskutieren und in einen offenen Austausch gehen wollen. Es gilt, eine differenzierte und ausgewogene, kritische und mitunter auch kontroverse Debatte zu führen. Der Text Die Kunst, mit der Natur zu gestalten bietet dazu eine produktive Gelegenheit.
Mario Grizelj
Es beginnt mit einem Gemurmel, einem Wackeln der Hüften. Die Sonne, heiß auf ihren Rücken, hat sie nie vom Tanzen abgehalten.
Der sanfte Wind weht nach Norden, aber sie lassen sich nicht beirren. Sie waren heute Morgen auf einer Jagd, auf der Suche nach dem richtigen Ort. Aber die Antwort liegt in einem Tanz. Die erste kommt zurück und wackelt ein wenig mit den Hüften, während sie sich in einer Linie auf die Nahrungsquelle zubewegt. Jede Bewegung teilt wichtige Informationen mit; sie umreißt eine Karte, wo die süßesten Schätze zu finden sind. Der Wackteltanz der Bienen ist ihr Ausdruck, um ihr Wissen und ihr Verständnis der Welt zu teilen. Und ich, als Zeugin dieses Tanzes, fühle mich geehrt, dass ich diese Sprache über die Jahre lernen durfte.
Die Natur kommuniziert immer,
manchmal in Form eines Tanzes, manchmal in Form des skulpturalen Nestes einer Laubenvogelart, und manchmal in Form des Gesangs einer Amsel.
Um diese Sprache zu verstehen, brauchen wir die Kunst des Zuhörens, die richtigen Antennen, um die Signale der Natur aufzunehmen. Kunst und Natur sind einander ein Spiegelbild, und unsere Beziehung zu ihnen wird durch die Wahl unserer Perspektive verändert. Es ist die Linse, für die wir uns im Moment entscheiden, die verändert, wie wir die Welt um uns herum sehen. Wenn wir beginnen die Welt des Lebens mit der Linse der Hoffnung, des Staunens und des Lernens zu betrachten und unsere Handlungen danach ausrichten, werden Natur und Mensch gleichermaßen transformiert.
Wir stehen an der Schwelle eines Generationswechsels. Die Welt, die uns überlassen wurde, ist in einer sehr gefährlichen Lage. Wir können den eingeschlagenen Weg nicht fortzusetzen, denn dadurch würde sich die bereits begonnene Katastrophe nur verschlimmern. In der Literatur zu Resilienz werden Herausforderungen wie der Klimawandel als "wicked problems" bezeichnet, bei denen Fakten unsicher sind, viel auf dem Spiel steht, Entscheidungen dringlich und viele Werte umstritten sind. Um diese Menschheitsaufgabe zu überwinden, sind neue Ideen, Paradigmen und neue Wege der Zusammenarbeit gefordert.
Im Laufe der Geschichte der Zivilisation hat sich die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt von einem fairen und ausgewogenen Austausch zu einem invasiven Muster der Besetzung und Beherrschung der Natur gewandelt. Wir stecken viel Energie in die Erhaltung dieses Musters, in dem wir uns selbst als getrennt von der Natur sehen, mit einem Gefühl der Dominanz, das unser Handeln leitet. Die Indigenen verstehen den Wert der heilen Beziehung zu ihrem Land und ihrer Umwelt. Es gibt ein tiefes Gefühl der Gegenseitigkeit, das die eigenen Handlungen leitet, wenn man mit der Erde und ihren Gaben verbunden ist. Als Zivilisation haben wir ungeheure Mengen an Energie darauf verwendet, die Entropie zu bekämpfen und uns außerhalb der Natur Lebensräume zu schaffen, wodurch eine Trennung zwischen uns und der natürlichen Welt, die uns erhält, entstanden ist.
Es liegt in der Natur des Menschen, Kunst zu erschaffen.
Unser intuitives Bedürfnis, natürliche Objekte und Strukturen zu verändern, kann als kunstschaffender Ausdruck unserer Menschlichkeit betrachtet werden - infolgedessen das entsteht, was wir Kultur nennen. Dieses Bedürfnis zu verleugnen, bedeutet unsere eigene innere Natur abzulehnen. Diesem Verrat an uns selbst entspricht die von uns geschaffene Trennung und Isolation von der "natürlichen Welt". Unsere Entwürfe werden von unseren Erfahrungen geleitet und unsere Trennung von der Natur hat uns in unseren Gestaltungsmöglichkeiten in die Irre geführt.
Sich-Ausdrücken gehört zum Kern unseres Wesens. Es ist ein Grundbedürfnis unserer Spezies, Erfahrungen und Emotionen mit anderen zu kommunizieren und zu teilen, und Kunst ist der direkte Ausdruck dieses Bedürfnisses. Wenn wir den Sinn dessen negieren und die grundlegendste Formel für Kommunikation und Ausdruck zu unterschiedlich bewerten, riskieren wir, Kunst von uns selbst zu distanzieren. Wenn wir unsere Kunst zur Ware oder zu etwas Profanem machen, riskieren wir, ihre alltägliche Präsenz und ihren wesentlichen Sinn zu vergessen: sowohl als Gefäß des persönlichen Ausdrucks und der gemeinschaftlichen Verbindung, als auch als früheste Form der Kommunikation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; einer Kommunikation, die die Zeit transzendiert. Diese Kommunikation findet sich in den Gemälden, dem gesprochenen Wort und den Tänzen der frühen Kulturen wieder. Allerdings sind die Menschen nicht die einzigen, die ihre Traditionen durch Kunst kommunizieren und ihre Bevölkerung erziehen. Bienen tanzen, Wale singen und Bäume erzählen Geschichten für alle, die bereit sind zuzuhören.
Was unsere Beziehung zur Natur angeht, so ist es oberflächlich zu sagen, dass wir miteinander verflochten oder eingebettet sind. In der Tat sind wir Natur und Natur ist unser wesentliches Element. Die Aspekte des modernen Lebens, die eine Trennung zwischen uns und dem Wesentlichen vortäuschen, könnte man mit den Schatten an Platons Höhlenwänden vergleichen: Die Wolkenkratzer unserer Städte, die unseren Raum zu dominieren scheinen und doch in Zeit, Größe, Nutzen und Haltbarkeit von den Bergen dahinter in den Schatten gestellt werden.
Das Transportnetz, das unser globales sozioökonomisches System gewebt hat, das auf den ersten Blick unvergleichlich ist, aber schnell ins Wanken gerät, wenn man es mit der Effizienz der mehreren Milliarden Operationen von Bestäubern vergleicht, die riesige Entfernungen zurücklegen und den Transport von unzähligen Partikeln schaffen, um unsere Welt zum Blühen zu bringen. Wir haben die Schatten, die wir aufgebaut haben, als unsere Realität und unser Eigen akzeptiert, auch wenn sie uns von den Reichtümern abhalten, die auf uns warten, wenn wir unseren Platz in der Natur wirklich annehmen würden.
Wir sind einem dreifaltigen Trugschluss erlegen. Dass unser Wesen kommodifiziert und somit optional ist. Dass die Schatten vor uns, die Ablenkungen, Grenzen und Kästen, die wir gebaut haben, realer und wahrer sind als die natürliche Welt, zu der wir eigentlich gehören. Und schließlich, dass es zu spät ist, um noch etwas zu tun.
Die Wiederherstellung der Beziehung zur Natur ist der erste Schritt auf einem neuen, notwendigen und doch uralten und bewussten Weg für die Menschheit. Ein Weg, hinzu der Vorstellung einer anderen Art des Seins. Die Wiederverbindung mit der Natur und die Anerkennung von uns selbst als Elemente im Meisterwerk der Natur ist das Herzstück der Heilung unserer vorgetäuschten und schmerzenden Trennung. Aber wie kann man diese Wiederverbindung erleichtern?
Hier kommt die Bedeutung von Biomimikry ins Spiel.
Genauso wie uns die Vergangenheit durch Kunst kommuniziert wurde, um unsere Zukunft zu leiten, kommuniziert die Natur ihre Lösungen fortwährend. Wenn wir durch die Linse von Biomimikry blicken, sehen wir die Kunst die Organismen als Ergebnisse ihres tiefen Lauschens in die Natur erschaffen.
Biomimikry ist Innovation nach dem Vorbild der Natur.
Denken Sie an den Velcro®-Klettverschluss, der von den Hakenmechanismen der Klettpflanze inspiriert wurde. Oder die WhalePower-Windturbinenblätter, die die Unebenheiten von Buckelwalflossen imitieren, um ein effizienteres und leiseres Turbinenblatt zu erzeugen. Biomimikry lädt uns ein, die Natur als Modell und Mentor dafür zu betrachten, wie wir auf diesem Planeten gedeihen können. Durch Biomimikry erkennt man, dass die Formen, Prozesse und Systeme der Natur die Evolution von vier Milliarden Jahren sind und die uns etwas über regenerative Resilienz lehren können. So weit wir auch in die entgegengesetzte Richtung gereist sein mögen, in eine unnatürliche und nicht nachhaltige Isolation, wir sind nicht allein und es ist nicht zu spät, nach Hause zurückzukehren. Unsere Vorfahren, die es schon viel länger gibt als die menschliche Spezies, haben notwendige Lösungen für eine hoffnungsvolle Zukunft für alle Lebewesen, eine Welt, die in Harmonie mit der Natur ist. Wir brauchen nur zu hören, was die Natur uns mitteilt und uns mit der Kunst um uns herum beschäftigen, die ständig geschaffen wird, um uns über unsere Torheit hinwegzutrösten und einen Weg nach vorne zu finden, trotz aller Herausforderungen und der tiefsten, dunkelsten Schatten, die an die Wände vor uns geworfen werden.
Die Idee, so weit hergeholt sie auch klingen mag, ist in der Realität, unserer Geschichte und unseren Vorfahren verankert. Die Bienen, die unsere Bäume bei der Blüte helfen, bevölkern diese Erde seit 100 Millionen Jahren, das sind etwa 99,8 Millionen Jahre länger als es uns gibt. In all diesen Jahren haben sie immense Erfahrungen für das Gedeihen auf dieser Erde gesammelt, im Vergleich zu unseren mageren 200.000 Jahren, seit Homo sapiens zum ersten Mal auf diesem Planeten wandelt. Sie sind Teil der vielen Ältesten, die ihre Erfahrungen weitergeben können, und uns Lektionen lehren können, die uns den Weg in die Zukunft weisen.
Ich bezeichne die Bienen als unsere Ältesten, nicht nur wegen der Langlebigkeit ihrer Spezies, sondern wegen des untrennbaren Familienbandes, das wir teilen. Die natürliche Welt und all ihre Geschöpfe sind nicht von uns getrennt. Tatsächlich sind wir Natur, wir sind ein Ausdruck von 3,8 Milliarden Jahren Leben. Unsere Körper haben 3 Milliarden genetische Bausteine oder Basenpaare der DNA, die uns zu dem machen, was wir sind. Und von diesen 3 Milliarden Basenpaaren ist nur ein winziger Teil einzigartig für uns, so dass wir zu etwa 99,9 % genetisch dem nächsten Menschen und zu etwa 90 % unseren Katzen ähnlich sind. In einem sehr wörtlichen Sinne teilen wir die Bausteine unseres Körpers mit dem Leben auf der Erde. Es ist entscheidend zu erkennen, dass das alte Narrativ der Trennung schon immer Illusion war. Es dient nicht mehr unserer Entwicklung und muss abgelegt werden, wenn wir beginnen wollen, eine Welt zu gestalten, die mit einer gesunden Vision der Zukunft übereinstimmt. Welche Herausforderungen und Möglichkeiten erwarten uns bei dieser Gestaltung?
Aus der Perspektive eines Architekten bringt jeder neue Entwurf eine Reihe von Fragen mit sich. Wie können wir unsere Gebäude kühlen, ohne fossile Brennstoffe zu verwenden? Wie können wir die Räume farblich gestalten, ohne Giftstoffe zu verwenden? Wie könnten wir eine Wand entwerfen, die atmet? Egal, wie seltsam eine Frage ist, die wir aufwerfen, eine der Millionen von Arten auf unserem Planeten hat eine Antwort. Die natürliche Welt hat über 3,8 Milliarden Jahre hinweg iterativ Lösungen erforscht und entwickelt - unter den Bedingungen dieses lebenden Labors namens Erde. Derselbe Ort, den wir geerbt haben und um dessen Erhalt wir uns bemühen. Wir sind keine schlechte Spezies, nur eine sehr junge, vielleicht sehr verwöhnte. Ich habe regelmäßig Grund zur Hoffnung, dass unsere Spezies endlich reift, hoffentlich über unser Ego und unsere mit fossilen Brennstoffen betriebenen Wutanfälle hinaus, und dass wir uns zu jungen Erwachsenen entwickeln, die bereit sind, die Realität zu begrüßen, sich achtsam gegenüber einander und den Mitbewohnern unseres Planeten zu verhalten und eine harmonische Zukunft aufzubauen.
Tief im Feld der Biologie verwurzelt und sowohl mit indigenen als auch mit aufkommenden Praktiken verwoben, ist Biomimikry ein interdisziplinäres Feld am Nexus von Technik, Wirtschaft, Bildung, Architektur, Kunst und sozialer Innovation. Der Biomimikry-Designprozess wird von der beobachteten Funktion geleitet: Man ersucht die Natur um Rat bei der Frage "Wie würde die Natur diese Funktion erfüllen?", um natürliche Vorbilder zu identifizieren, die bereits eine elegante Lösung für eine bestimmte Herausforderung gefunden haben. Die natürliche Welt ist ein glänzendes Beispiel für Effizienz: Sie erfüllt ständig spezifische Funktionen, die jedem Organismus helfen, auf dem Planeten Erde zu überleben und zu gedeihen. Milliarden von Funktionen in der Natur werden ständig um uns herum ausgeführt; jede Funktion ist das Ergebnis einer iterativen, feinen Abstimmung über Jahrtausende. Wir selbst erfüllen ständig Funktionen, um menschliche Herausforderungen zu lösen, aber selten fragen wir: Wie erfüllt die Natur diese Funktionen? Anwender:innen von Biomimikry betrachten die Natur als Modell, Maßstab und Mentorin, was bedeutet, dass sie von der Natur ebenso viel lernen wie über sie.
Wenn wir zum Beispiel an die Kühlung eines Gebäudes denken, ist die Klimaanlage die erste Lösung, die uns in den Sinn kommt. Die Natur hat es jedoch geschafft, seit Milliarden von Jahren zu kühlen, ohne fossile Brennstoffe zu verwenden. Ein Elefant hat Risse in seiner Haut, die wie Falten aussehen, aber diese Risse speichern zehnmal mehr Feuchtigkeit als eine glatte Oberfläche und helfen dem Tier, seine Körpertemperatur durch längere Verdunstungskälte zu regulieren. Bei ,Biomimicry Frontiers‘, haben wir für ein Projekt in Indien, statt einer Klimaanlage, diese Strategie für eine Wand nachgeahmt, die, wenn sie an das Regen-Abwassersystem angeschlossen ist, Wasser durch die Risse fließen lässt und so über längere Zeiträume die heiße Luft aus dem Inneren des Hauses abzieht, so wie es auch ein Elefant tun würde. Über die Nachahmung von Formen und Prozessen hinaus haben wir uns auch zu biomimetischer Nachahmung von Systemen inspirieren lassen, mit dem Ziel, ein Gebäude zu schaffen, dass so effektiv funktioniert wie ein Wald. Wir wollen Strukturen schaffen, die zum umgebenden System beitragen, anstatt ihm zu schaden.
Wenn man sie in Ruhe lässt, strebt die Natur auf natürliche Weise zu höherer Komplexität und Vielfalt.
Und dabei entwickeln sich stärkere Beziehungen, die die Gesundheit des größeren Systems unterstützen. Dies ist ein Tor zu den tieferen Mustern, die in der Natur über viele Ebenen hinweg existieren. So z.B. die Tatsache, dass alle Systeme in der Natur lokal abgestimmt und reaktionsfähig sind: Während Bäume global existieren, ist jeder Baum lokal auf sein Klima und seinen Kontext abgestimmt; Kakteen zeigen ein spezifisches Verhalten, das für ihr Überleben in einer Wüste entscheidend ist, während die Nadelbäume des Schwarzwaldes an ihre lokalen Berge und schneereichen Winter angepasst sind. Die Bienen nutzen lokale Hinweise wie den Stand der Sonne, um den Standort der Nahrungsquelle zu kommunizieren. Ein weiteres allgegenwärtiges Muster ist die Anpassung der Natur an sich ändernde Bedingungen. Egal, wo auf der Welt wir leben, wir werden ständig feststellen, dass sich das Leben um uns herum an seine Umgebung anpasst. Stellen wir uns vor, unsere Gebäude könnten dasselbe tun. Sie fügen sich in ihre Umgebung ein, ergänzen sie und tragen sogar zu ihr bei.
Wir sind Natur. Unsere illusorische Trennung ist etwas, das wir heilen können, indem wir uns an der natürlichen Welt orientieren. Diese Wiederverbindung ist das Herzstück der Heilung dieser Trennung und eine großartige Möglichkeit, sich wieder zu verbinden, besteht darin, die natürliche Welt durch eine funktionale Linse zu betrachten, um uns inspirieren zu lassen. Das Feld der Biomimikry erkennt an, dass die Formen, Prozesse und Systeme der Natur die Evolution von vier Milliarden Jahren sind, die uns regenerative Resilienz lehren kann. Indem wir durch die Linse der Natur sehen, können wir Geheimnisse entdecken, die uns bei der Lösung unserer dringendsten Herausforderungen helfen. Wir können so damit beginnen, Designs, Gemeinschaften und Unternehmen zu schaffen, die wirklich nachhaltig sind.
Wie also können wir als Nicht-Experten beginnen, diese funktionale Linse zu nutzen, um uns wieder mit unserer Umwelt zu verbinden?
Auf die gleiche Weise, wie man sich mit der Kunst verbindet. Wenn wir das Bedürfnis nach Perfektion, Professionalität oder Wertschöpfung ablegen und uns von unserer Neugierde und Kreativität leiten lassen, entdecken wir neue Quellen der Freude und Inspiration. Diese geruhsame Herangehensweise lässt sich auch auf Biomimikry anwenden - wir müssen nicht mit Gebäuden und ausgeklügeltem Design beginnen, wir können mit einer Übung in Achtsamkeit und der Öffnung unserer Sinne beginnen, vielleicht mit Stift und Papier neben uns, direkt vor unserer Haustür.
Das Anzapfen der Linse beginnt mit einem Innehalten; wir sollten unser inneres Geschwätz zur Ruhe bringen und uns in die Natur einfühlen, wie wir es mit einem anderen Menschen tun würden. Es ist wichtig, nicht sofort in den Lösungsraum zu springen, während wir das Leben um uns herum beobachten, sondern mit der Absicht zu sitzen, zu beobachten, so wie es ein Kind tun würde, und neugierige Fragen zu stellen. Kinder haben eine angeborene Fähigkeit, die Welt mit neugierigen Augen zu betrachten, alles zum ersten Mal zu sehen und zu wissen, dass sie noch viel zu lernen haben. Auch wir können damit beginnen, unsere vorgefassten Meinungen abzulegen, um Platz für all das zu schaffen, was wir nicht wissen. Erinnere dich daran, wie Du als Kind am Fluss gehockt hast, um einen Frosch beim Hineinspringen und Herauskommen zu beobachten? Verbinde Dich wieder mit dieser Denkweise.
“Umwelt" ist ein Begriff, der die Welt beschreibt, wie sie von einem bestimmten Organismus erlebt wird. Ein Hund und ein Mensch werden z.B. einen Spaziergang auf einer Straße sehr unterschiedlich erleben. Mit dieser Wahrnehmung, beginne Dir die Umwelt verschiedener Organismen vorzustellen, während sie durch ihren Tag gehen. Stell Dir vor, wie sich die Welt für einen Vogel anfühlt, der in die Baumkrone fliegt, oder die Ameise, die ihr Nest unter der Erde baut. Wie würde eine Taube oder ein Schmetterling ihre Nachbarschaft erleben? Fliege noch höher: lasse Dich auf die Erfahrung Deiner “Mitwelt” ein, das Erleben der von allen Organismen geteilten Welt, die die Erfahrung des “Anderen” transzendiert. Die unzähligen Organismen um Dich herum bieten immense Möglichkeiten, zu lernen und sich mit ihnen zu verbinden.
Du musst dich nicht einmal in die Ferne begeben. Wie wäre es, wenn Du einfach in einen Garten, einen Wald oder einen Park gehen und Dir einen Moment Zeit nehmen würdest, um Deine Augen zu schließen, während Du Deinen anderen Sinnen die Führung überlässt? Nimm Dir ein Notizbuch mit und setze Dich, während Du die Augen schließt, und den Geräuschen um Dich herum lauschst; den Autos, den Vögeln, all dem, und versuche, mit geschlossenen Augen eine Skizze zu erstellen. Mache Dir nicht zu viele Gedanken über das Ergebnis, gehe einfach mit einer Haltung von neugierigem Engagement hinein. Vielleicht sieht die Welt am Ende ganz anders aus, als Du es erwartet hast. Und da der Frühling über uns hereinbricht, ist dies ein guter Zeitpunkt, um hinter unseren Schreibtischen hervorzutreten und einen Spaziergang zu machen. Versuche, die Bienen bei ihrer Nahrungssuche zu finden und höre Ihnen zu. Lausche tief in dich hinein. Was erzählen sie Dir, wenn sie Dir die Geheimnisse ihres Überlebens schenken.
Was wäre, wenn Du in ihre Fußstapfen treten würdest?
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