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Tempo! Alle Zeit der Welt 26.9.2021-6.2.2022

Pressemitteilung 30.08.2021
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Mit Kunstwerken von Carl Bössenroth, Tega Brain und Sam Lavigne, Johanna Domke, Mark Formanek, Oliver Gather, Jeppe Hein, Tehching Hsieh, Sanja Iveković, Simone Kessler, Cesar Kuriyama, Claude Lelouch, Joana Moll, Rachel Sussman und Melanie Wiora sowie Objekten aus der Kulturgeschichte und den Wissenschaften.

Kuratiert von Kathrin Meyer und Ina Fuchs

Ausstellungsgestaltung: Funkelbach. Büro für Architektur und Grafikdesign

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Rachel Sussman, La Llareta #0308-2B31 (bis zu 3.000 Jahre alt; Atacama-Wüste, Chile), 2008, Fotografie

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Sanja Iveković, You Probably Never Noticed Before, 2019, Fotografie

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Johanna Domke, Sleepers, 2007, Video

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Melanie Wiora, Turmoil, 2018, Video

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Mark Formanek, Standard Time, 2007, Video

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Tega Brain und Sam Lavigne, Sleep Study, 2021, Installation und App

Die Ausstellung „Tempo! Alle Zeit der Welt“ widmet sich den Geschwindigkeiten der Natur und der Rolle des Menschen als zugleich Initiator und Opfer der Beschleunigung. Bereits im Ausstellungstitel klingt das ambivalente Verhältnis zu Geschwindigkeit und Zeit an: Die Redensart „Alle Zeit der Welt“ im Untertitel setzt der Aufforderung „Tempo!“ das Versprechen entgegen, dass die Zeit nie ausgeht. Und tatsächlich: Bis zum Tod haben wir Zeit. Doch wie schnell geht sie vorbei! Das Streben, die begrenzte Lebenszeit optimal zu nutzen, wirft Fragen auf: Wie lässt sich Zeit gewinnen beziehungsweise ihr Verlust vermeiden? Wie können wir in noch weniger Zeit noch mehr schaffen? In welchen Zeiträumen denken und handeln wir? Und was ist eigentlich das Optimum der Zeitnutzung? Dichte oder Weite? Effizienz oder Verschwendung?

In der Auseinandersetzung mit Zeit dreht sich der moderne Mensch um sich selbst – den Blick starr geheftet auf die selbstkreierten Uhren, die unermüdlich den Takt vorgeben. Beschleunigung verspricht Gewinn von Lebenszeit und -qualität: schneller am ersehnten Ort sein, schneller den besten Moment herbeiführen, schneller das Ergebnis sehen. Dabei ist Zeit nicht etwa Geld, sondern Welt.

Dass Zeit Welt ist, gilt in zweifacher Hinsicht. Zum einen erleben Menschen die Welt zeitlich: als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Dabei lässt der Boom der Achtsamkeits- und Entspannungstechniken den Mangel am Erleben des Hier und Jetzt vermuten und zeigt die Sehnsucht nach dem Innehalten. Zum anderen sind Tempo-Empfinden, Uhr-Zeit, Lebenstempi und die technischen Beschleunigungsmittel gebunden an die Umwelt. Sie sind verstrickt mit Tag und Nacht, mit Lebensrhythmen anderer Lebewesen, mit Molekülen, mit der Erde selbst. Zeitknappheit und Beschleunigung erscheinen oberflächlich betrachtet als exklusiv menschliche (und menschengemachte) Probleme, doch ihre existenzielle Dimension liegt in dieser Verstrickung mit der lebendigen Welt. Unter anderem der Befund der „großen Beschleunigung“ nach 1945 verdeutlicht, dass die Arten und Weisen, wie Menschen arbeiten, ihre Freizeit verbringen, welchen Lebensstil sie pflegen und wie sie Waren produzieren, unmittelbar auf natürliche Kreisläufe einwirken. Wissenschaftler:innen veröffentlichten 2004 eine Reihe von Kurvendiagrammen, die darstellen, dass es nach 1950 einen rasanten Zuwachs in sozial und ökologisch bedeutsamen Bereichen gab: etwa im Anstieg des Bruttosozialprodukts, des Wasser- und Energieverbrauchs sowie des Verbrauchs von Düngemitteln. Die Diagramme zeigen: Das sozioökonomische System der Menschheit kann nicht mehr getrennt vom biophysikalischen Erdsystem betrachtet werden.

Die Ausstellung „Tempo! Alle Zeit der Welt“ lädt dazu ein, das eigene Tempo- und Zeit-Bewusstsein im Verhältnis zur lebendigen Welt zu ergründen, zu schärfen und zu erweitern. Die Ausstellung blickt hinein in die Gegenwart menschlicher, pflanzlicher, technischer und molekularer Tempi. Dabei sucht sie eine Synthese von menschlichem Zeitempfinden und dem planetaren Fluss der Zeit. So geht sie dem Phänomen der Beschleunigung sowohl im ganz Kleinen, Persönlichen und Alltäglichen wie auch im Großen und Globalen nach. Sie spannt einen Bogen über drei Themenfelder: 1. die Tempi des Kohlenstoffkreislaufs, die untrennbar mit der „großen Beschleunigung“ menschlicher Aktivitäten verstrickt sind; 2. die Gegenüberstellung der Tempi menschlicher und nicht-menschlicher Lebenszeiträume und 3. den menschlichen Körper als Sitz unserer Geschwindigkeitsempfindung sowie als natürliche Grenze der individuellen Beschleunigung und Mittel zur Entschleunigung – etwa durch die Notwendigkeit, zu atmen und zu schlafen.

Auf dem Weg durch die Schau wird deutlich: Das Verhältnis des Menschen zur Geschwindigkeit ist zutiefst ambivalent, weltvergessen und dabei voller Sehnsucht nach Weltverbindung und Resonanzerfahrungen. Nehmen Sie sich Zeit.

Einblicke in die Ausstellung

Den Auftakt und zugleich das Herzstück der Ausstellung bildet ein Text- und Exponat-Ensemble zum Kohlenstoffkreislauf: Für die menschlichen Sinne und Lebensspannen unfassbare Prozesse werden mithilfe wissenschaftlicher Darstellungen, künstlerischer Arbeiten sowie literarischer Erzählkunst vorstellbar. Der italienische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi (1919–1987) veröffentlichte 1975 sein Werk „Das periodische System“, das auch das Kapitel „Kohlenstoff“ enthält. Levi erzählt die Abenteuer eines Kohlenstoff-Atoms auf eine Weise, die komplexe chemische Vorgänge mit dem alltäglichen Leben und der Menschheitsgeschichte verknüpft. Dies ist heute angesichts der Klimakrise aktueller denn je: Im Kohlenstoffkreislauf werden die gegenseitigen Einflüsse und Abhängigkeiten menschlicher Tätigkeiten und biochemischer sowie geologischer Prozesse überdeutlich. Das Ausstellungskapitel endet mit einer Visualisierung des heute verbleibenden Emissionsbudgets zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels: der „Carbon Clock“ des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change.

Die folgende Sequenz im Erdgeschoss thematisiert die Parallelität menschlicher und nicht-menschlicher Lebenszeiträume und sucht nach Berührungspunkten. Drei Fotografien aus Rachel Sussmans Langzeitprojekt „The Oldest Living Things in the World“ (seit 2004) zeigen uralte Lebewesen, beispielsweise eine ca. 9.550 Jahre alte Fichte. Das Entstehen neuer Landschaftsformen durch Infrastrukturen führt das Gemälde „Alpenpost auf der Stilfser-Jochstraße bei Trafoi“ von Carl Bössenroth aus dem Jahr 1892 vor Augen: Der Mensch richtet die Welt so ein, dass sie möglichst schnell durchquerbar ist, die glatte „Kunststraße“ steht in starkem Kontrast zur unberührten Hochgebirgswelt.

Im Obergeschoss des Museums Sinclair-Haus entfaltet sich der dritte thematische Schwerpunkt: Der Fokus liegt hier auf dem menschlichen Körper als dem eigentlichen „Tempo-Organ“ des Menschen. Sowohl Beschleunigung als auch Entschleunigung erleben, genießen oder erleiden wir körperlich. Hier präsentieren wir Kunstwerke sowie Einblicke in die Kulturgeschichte des Weckers, die das Tempo-Erleben auf die individuelle, persönliche Ebene bringen. Dazu gehört auch das partizipative Kunstwerk „Breathe with Me“ des Künstlers Jeppe Hein, das sich während der Ausstellung vom Hof des Museums über das Treppenhaus bis ins erste Obergeschoss ausbreiten wird. Die Besucher:innen sind eingeladen, beim Ausatmen mit blauer Farbe einen Strich zu ziehen (Das Malen ist zu folgenden Zeiten möglich: mittwochs zwischen 14 und 19 Uhr; samstags und sonntags zwischen 11 und 16 Uhr.). Heins Arbeit verbindet Achtsamkeit und Ökologie: Entstanden ist sie nach einer persönlichen Burn-Out-Erfahrung, erstmals gezeigt wurde sie 2019 bei der UN-Klimakonferenz in New York.


Zum Erleben sehr unterschiedlicher Tempi laden zwei Film-Kunstwerke ein, die in nebeneinander liegenden Kabinetten gezeigt werden. Sie markieren Extreme im Spektrum der Geschwindigkeitserfahrungen: atemlose Schnelligkeit und Langsamkeit kurz vor dem Stillstand. Der Film „C’était un rendez-vous“ von Claude Lelouch aus dem Jahr 1976 dokumentiert eine rasende Autofahrt durch Paris – entstanden ist ein Werk, das den Rausch der Geschwindigkeit mit den Mitteln des Films zelebriert. Melanie Wiora hält mit ihrer Arbeit „Turmoil“ (2018) eruptive, schäumende und spritzende Wasserbewegungen in extremer Zeitlupe fest: Die Urkraft des Wassers ist hier gebannt in medial erzeugte Langsamkeit, sodass das menschliche Auge Details wahrnehmen kann, die ihm sonst verborgen bleiben.


Die Ausstellung endet mit einer Reihe von Werken und Objekten, die sich mit dem Auseinanderklaffen von individueller „Eigenzeit“ und physikalischer „Welt-Zeit“ (oder Uhr-Zeit) befassen. Im Mittelpunkt steht der schlafende Körper. Der Schlaf erscheint hier einerseits als notwendige Grenze der Beschleunigung, die andererseits häufig nicht als solche respektiert wird, sowie als klimaschonende Kulturtechnik mit revolutionärem Potenzial. Den Auftakt macht der Film „One Year Performance 1980-1981 (Time Clock Piece)“ von Tehching Hsieh. Der 16-mm-Film (übertragen auf digitale Medien) besteht aus 8.627 Einzelbildern, die der Künstler in 365 Tagen von sich und einer Stechuhr machte. Seine Performance bestand darin, dass er über ein Jahr hinweg einmal pro Stunde diese Stechuhr bedienen musste, er sich also einer unmenschlichen zeitlichen Taktung unterwarf. Darauf folgt das Video „Sleepers“ (2007) von Johanna Domke, das Schlafende am Stansted Airport zeigt. Von diesem Flughafen starten viele Billigflieger. Er ist zu einem Symbol geworden für Massentourismus und die Beziehungen zwischen Zeit, Raum und Körper, die er hervorbringt. Nach einem kurzen Ausflug in die Kulturgeschichte des Weckers steht am Ende der Schau die Neuproduktion „Sleep Study“ des New Yorker Künstlerduos Tega Brain und Sam Lavigne: In Form einer immersiven Installation sowie einer App setzt sich diese Arbeit mit Schlaf als Klimatechnologie auseinander. Die Idee entstand zur Zeit des Lockdowns der Corona-Pandemie, unter dem Eindruck der plötzlichen radikalen Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die ironischerweise zur kurzfristigen Verbesserung der CO2-Bilanz beitrug. „Sleep Study“ ist ein Gedankenexperiment: Würden wir alle mehr schlafen, hätte das nicht automatisch positive Auswirkungen auf das Klima? Besucher:innen können unabhängig vom Museumsbesuch per App (auf Englisch; für iOS und Android) ihre Schlafdauer erhöhen und Anregungen zum Erträumen einer besseren Zukunft erhalten. So verbindet die Arbeit Erkenntnisse aus der Klimamodellierung und der Schlafforschung mit einer Kritik an ökologisch und sozial untragbarer Lebensbeschleunigung, die nicht zuletzt auch die Klimakrise verstärkt.

Programm und Vermittlung

Die Ausstellung wird von einem interdisziplinären Programm begleitet. Führungen, philosophische Streifzüge und Vermittlungsangebote vor Ort werden ergänzt durch digitale Formate. Ab September geht jeden Monat ein Teil einer 3-teiligen Podcast-Reihe online: Reportagen und Gespräche mit Wissenschaftler:innen erkunden individuelle und ökologische sowie geologische Dimensionen der Geschwindigkeit. In der Veranstaltung „Gartenzeit“ erfahren Sie bei den Hochbeeten in unserem Museumshof mit Künstlerin und Permakulturgärtnerin Ilka Schön mehr über Tempi von Pflanzen und Menschen, über Kreisläufe und Jahreszeiten. Bei dem literarischen Rundgang „Spazieren – macht Gehen glücklich?“ mit dem Garten- und Parkführer sowie Literaturkenner Mikael GB Horstmann geht es um den menschlichen UmGang mit Zeit und Raum. Den Audiowalk „A Walk in the Park“ der Musikerin und Performerin Lisa Stepf können Sie sich als Audiodatei herunterladen und damit einen Spaziergang in verschiedenen Tempi und mit allen Sinnen erleben. Musikalischer Ausgangspunkt sind die Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach, eingespielt von argovia philharmonic (Aarau).

Für Gruppen aus Schulen und Bildungseinrichtungen steht das Museum nach Voranmeldung jeden Vormittag offen. Das interdisziplinäre Vermittlungsprogramm bietet begleitend zur Ausstellung sowohl digital als auch analog Formate für alle Altersgruppen an, u.a. Führungen, Workshops, Weiterbildungen und vielfältige Online-Kurse, in den man selbst kreativ werden und sich in verschiedenen künstlerischen Disziplinen ausprobieren kann.

© Museum Sinclair-Haus

Stiftung Kunst und Natur

Das Museum Sinclair-Haus ist Teil der Stiftung Kunst und Natur gGmbH, die in Bad Homburg und Nantesbuch (Oberbayern) Räume für die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Kunst und Natur bietet.


Service

Pressefotos senden wir gerne auf Anfrage zu.

Begleitprogramm: museum-sinclair-haus.de/programm
(Tickets und Infos ab 15. September)

Ideenheft Blattwerke „Tempo“: (ab 15.9. online) 6 Euro
(an der Museumskasse) und als kostenfreier Download im Web: museum-sinclair-haus.de/blattwerke

Podcastreihe „Tempo!“ (ab 24.9. online):
museum-sinclair-haus.de/audio

Social Media: #museumsinclairclips, #blattwerkebewegt

Besucher-Service:
T: +49 (0)6172 5950 500, museum@kunst-und-natur.de

Für den Museumsbesuch gelten die aktuellen Corona-Regeln: museum-sinclair-haus.de/besuch

Claudia Praml
Claudia Praml
Leiterin Kommunikation Standort Bad Homburg / Museum Sinclair-Haus
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Museum Sinclair-Haus,
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61348 Bad Homburg v.d. Höhe

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Besucherinformationen

Barrierefreiheit

Das denkmalgeschützte Gebäude des Museums Sinclair-Haus ist eingeschränkt barrierefrei. Es existiert im Haus ein Treppenlift (kein Aufzug).

Eintrittspreise

6 Euro, ermäßigt* 4 Euro,
mittwochs Eintritt frei

*Ermäßigten Eintritt erhalten: Schüler:innen, Studierende und Auszubildende bis 27 Jahre, Arbeitslose, Schwerbehinderte. / Freien Eintritt erhalten: Kinder und Jugendliche (bis 18 Jahre), Inhaber von Frankfurt Pass, Bad Homburg-Pass, Museumsufercard, Ehrenamts-Card, Kulturpass-Ticket, Jugendleiter*in-Card (Juleica) und ICOMcard

tickets.museum-sinclair-haus.de oder an der Museumskasse.